Wandern durch die Geschichte

Dies ist die Schilderung einer (mehrteiligen) Wanderung: Von den Karpaten durch die Hohe Tatra, die Sudeten, bis ins Erzgebirge, den Böhmer Wald. Und es ist auch die Schilderung einer Begegnung mit der Geschichte.

Erzgebirge (Mitte) - (III) Von Rübenau nach Bärenstein

Zwei Städte bauen eine Mitte

Rübenau am Morgen: Trist, neblig, Novemberwetter, der Gastraum kalt, der tschechische Wirt tischt verlaufenes Spiegelei mit Speck auf. Der Gasthof ist ein Schmuckstück, die Bedienung freundlich - aber wo sind die Gäste?

So um die 1000 Einwohner soll der Ort noch haben, entnehme ich der Dorfgeschichte. Einst im "Dunkelwald" gegründet habe er seine Boom-Zeit im 17. Jahrhundert als "Dorf der Schmiede" gehabt, steht da, im 18. und 19. Jahrhundert seien dann Kupfer, Eisen, Kohle abgebaut worden. Die Dorfchronik schreibt von "Goldenen Jahren" mit weit mehr als 2000 Bürgern - und schließlich vom "Grossen Vaterländischen Krieg", als nämlich die Sowjetarmee einrückt. Und dann: "...die Sudetengebiete werden entgermanisiert. Zum ersten Mal in der Geschichte wohnen keine Deutschen mehr in den böhmischen Nachbarorten Kallich und Natschung; die beiden Grenzübergänge werden geschlossen...". Inzwischen sind sie wieder geöffnet, nach Kalek (Kallich) fährt sogar ein Bus. Die Zeit allerdings, als Rübenau staatlich anerkannter Erholungsort war, ist auch schon wieder vorüber - die neun Betriebsferienheime, die 120 privaten Urlaubsplätze des FDGB: ein Häkchen in der Geschichte. Der Gasthof "Weißer Hirsch", das Schmuckstück in der Ortsmitte, der war damals Betriebsferienheim des VEB Blechwalzwerk Olbernhau. Die großen Arbeitgeber, die staatseigenen Betriebe, gibt's nicht mehr; und auch die örtliche Mittelschule hat 2004 mangels Schülern schließen müssen. Die Hoffnungen der Rübenauer richten sich jetzt auf den Nachbarn: "Seit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur EU 2004 werden die Beziehungen zum benachbarten böhmischen Erzgebirge wieder intensiver..." Da wächst wieder zusammen, was einst zusammen war.

50 Meter nach Osten gibt's einen Landhandel, Batterien hat er, Brötchen, Kuchen, auch Papiertaschentücher - aber kein Pflaster für die Füsse... Dafür fährt der Bus gleich ab, nach Reitzenhain; das spart runde acht Kilometer stiefeln durch das nasse Wetter, und den Blasen an den Fersen tut es auch wohl.

Reitzenhain14), ein verfallendes Bahnhofsgebäude ohne Bahn, schräg gegenüber die Bus-Wendeschleife, Nebeldunst, feuchte Kälte, Menschenleere weit und breit. Kurs: Nach Süden, nach Tschechien15). Der Weg führt an der Straße entlang, Lastzug auf Lastzug donnert vorüber, undeutlich stehende Autos, dann Menschen: Deutsche Bundespolizei und Zoll winken stichprobenartig Fahrzeuge zur Kontrolle heraus; selbst der Wandersmann wird nach dem Wohin und dem Woher gefragt und muss sich ausweisen - Schengen erlaubt das, wenn's nicht Dauereinrichtung ist. Eine Brücke, die Grenze - ein Lieferwagen bremst angesichts der Kontrollstelle ab, schert blitzartig aus, wendet mit quietschenden Reifen zurück ins "sichere" Tschechien. Schnell eine Gulaschsuppe, ein Budweiser im Imbiss, nicht einmal zwei Euro kostet das - wieder hinaus in die wabbernde Nebelsuppe. Hübsch links, immer auf dem Sprung an den Grabenrand, einen Pfad für Wanderer gibt's hier nicht, nur das Asphaltband für Lastzug auf Lastzug. Das geht so Kilometer für Kilometer, ätzend. In Hora Svatého Sebestiána16) zweigt die alte Straße ab, es folgen Rotlicht-Schaufenster auf Rotlicht-Bar, blinkende Herzchen, St. Paulis Reeperbahn ist Klostergelände dagegen. Mitten im Ort dann doch eine "solide" Unterkunft. Ruhe für die Füsse. Und den Wanderer.

Nächster Tag, gleiche Nebelsuppe. Hinter Nová Ves17) sollte ein Bahn-Halt sein, weiß ich aus früheren Jahren; in der Karte ist er eingetragen. Es war einmal... Das prächtige Bahnhofsgebäude verschanzt sich hinter einem "Privat"-Schild, am nahegelegenen Trucker-Stopp erfahre ich, dass die Strecke nur noch am Wochenende mit Touristen-Bähnchen befahren wird. Heute ist kein Wochenende...

Die "neue Mitte" von Vejprty/Bärenstein - eine wüste Baustelle. Davor ein Warnschild: Achtung! Staatsgrenze! Foto: Peter Gollnik
"Achtung! Staatsgrenze." - Und quer über den Grenzbach wird die neue Mitte von Bärenstein/Vejprty gebaut (hinten das Bärensteiner  Rathaus): So wachsen zwei Ortschaften in zwei Staaten zu einem Gemeinwesen zusammen. Foto: Peter Gollnik

Noch ein paar Kilometer weiter liegt Krimov18), mit Bushaltestelle. Im Gasthof gibt's Eier in Dillsauce, gewöhnungs-bedürftig. Dann kommt der Bus nach Chomutov.

Chomutov19), Industriestadt, 50.000 Einwohner, hat auch einen Busbahnhof. Da läßt sich gut umsteigen, keine zwanzig Minuten später fährt der Bus nach Vejprty20). Vejprty, auf deutsch Weipert, einst königliche Bergbaustadt, knapp 800 Meter hoch am Gebirgskamm, 3500 Bewohner (zur Zeit der Donaumonarchie waren es einmal 13.000, 10.000 deutsche Böhmen wurden nach 1945 hinausgetrieben, die Stadt fast entvölkert) - und ein Grenzübergang über den trennenden Pöhlbach hinweg ins Schwesterörtchen Bärenstein21). "Herzen wurden verletzt, aber der Verstand verlangt Versöhnung" steht auf einem 2005 errichteten Gedenkstein auf dem Platz der abgerissenen evangelischen Kirche. Das Hotel in der Ortsmitte scheint von den Vietnamesen belegt, die ringsherum ihre Basar-Stände betreiben; in der ul. Bozeny Nemcove mit Blick über den Pöhlbach auf Bärensteins Rathaus finde ich Quartier, Penzion Bednar hat weiche Betten, und der Kaffee für den einzigen Gast am nächsten Morgen ist wie das gesamte Frühstück exzellent!

"Ziel 3"-Geld aus Brüssel: Informationstafel der Europäischen Union in Vejprty
"Ein gemeinsames Projekt der Gemeinden  Bärenstein und Vejprty" - Informationstafel auf tschechischer Seite zum Bau der grenzüberschreitenden neuen Ortsmitte. Die Europäische Union zahlt den Löwenanteil aus "Ziel 3"-Mitteln. Foto: Peter Gollnik

Von deutscher Seite her weckt eine penetrante Stundenglocke, romantisch oder nervig? Vejprty und die sächsische Schwestergemeinde Bärenstein (etwas weniger Einwohner als Vejprty, Einkommen fast ausschließlich aus dem Wintertourismus, ab 2012 soll ein neues Bergwerk Flußspat fördern) wachsen nicht nur akustisch zusammen: Von 1945 bis nach 1990 ohne jeden Kontakt zueinander, durch Bach, Zaun und Grenzstreifen getrennt, werkeln beide Ortschaften derzeit an einer gemeinsamen neuen Stadtmitte. EU-Geld soll's richten, Ziel-3-Hilfen fließen in Millionenhöhe in die Grenzüberwindung. Wie war das? - "Der Verstand verlangt Versöhnung"... Die Grenze, als Bauwerk ist sie schon jetzt nicht mehr.

 

Peter J. Gollnik, November 2011

► (IV) Zwei Staaten, eine Identität