Geschichten aus der Provinz

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Vor dem Schöffengericht: Die Suche nach der Wahrheit

"Ich bleibe immer der Russe..."

Es war wohl so wie bei manchen Feiern auf dem Lande: Viel Alkohol, Rempeleien unter jungen Leuten. In diesem Fall flogen auch Fäuste, zwei gingen zu Boden – der eine, 21 Jahre jung, wachte nie wieder auf.

Das war vor beinahe drei Jahren, 2001, als der Mai gerade eineinhalb Stunden alt war. Der, der den 21-Jährigen damals zu Boden geschlagen hatte, stand gestern Mittag wieder am Bornhöveder Markt, an der Treppe, an der alles geschehen war: Ortstermin, die Jugendstrafkammer II des Kieler Landgerichts wollte sich ein Bild machen; Staatsanwalt, Anwalt der Nebenkläger, Verteidiger, ein Professor von der Kieler Gerichtsmedizin, die Eltern des Toten, die Eltern des Angeklagten, ein Jugendgerichtshelfer dabei.

Unumwunden hatte der jetzt 23-jährige Angeklagte das, was da vorgefallen war, aus seiner Sicht geschildert: Ja, er habe zugeschlagen, als der andere auf ihn zu gekommen sei, „ins Gesicht“, zweimal daneben, der dritte Schlag traf. Der Staatsanwalt hatte so formuliert: Das Opfer „taumelte durch die Wucht des Schlages zurück“, beim Fallen sei es mit dem Hinterkopf auf das eiserne Treppengeländer aufgeschlagen – „was der Angeklagte hätte voraussehen müssen“.

„Ich hab‘ nur noch gesehen, wie jemand auf einer Bank lag, dann bin ich weg gegangen“, wusste der Angeklagte. Was tatsächlich geschehen war, hatte ihm erst am Morgen gedämmert, bei der Polizei.

„Ich möchte sagen, dass es mir sehr leid tut, das habe ich nicht gewollt“, sagte er gestern an die Eltern des Toten gewandt, stockend. Schriftlich hatte er sich ihnen gegenüber schon ähnlich geäußert.

„Körperverletzung mit Todesfolge“ sieht die Anklage in dem, was passiert war. In Bornhöved, in Wankendorf und drumherum hatte das Ganze noch eine andere Dimension: In ihrem Briefkasten hatten die Eltern des Angeklagten einen Zettel gefunden: „Geht dahin, wo ihr herkommt, ihr Sch...-Ausländer“. 1994 war die deutsche Familie aus Kasachstan zugezogen. Der jetzt vor Gericht stehende Sohn machte Hauptschulabschluss, Maler-Lehre, bekam bei der Bundeswehr die Fluthelfer-Medaille, ist heute als Malergeselle in Lohn. „Ausländer“, das Wort, als Beschimpfung gemeint, soll in Bornhöved Initialzündung zu den entscheidenden Schlägen gewesen sein.

Angefangen hatte es anders: „Das war den ganzen Abend so, dass die Wankendorfer Probleme mit den Bornhövedern hatten“, hatte der Deutsche aus Kasachstan berichtet. Sein Anwalt: „Also aufgeheizt“. Aber dann soll der Satz gefallen sein: „Verp... Euch, Ihr Sch...-Russen, was wollt Ihr eigentlich hier?“ Der Richter: „Waren Sie der Russe?“ Angeklagter: „Ja, der Russe – ich hab‘ deutsche Bekannte, trotzdem bleibe ich immer der Russe, das ist mir egal geworden“. Weil es viele Zeugenaussagen gibt, und die vielen vieles unterschiedlich erzählt hatten, wird der Prozess weiter gehen: Erst einmal vier Verhandlungstage hat das Gericht vorsorglich dafür angesetzt.

II: Die Zeugen - und das Tableau der Wahrheiten

Es ist eine mühselige Suche nach der Wahrheit, und womöglich wird sie an keiner Stelle dieses Prozesses der Gerechtigkeitsfindung richtig abgebildet.

Ein überdimensionales Tableau der polizeilichen Zeugenaussagen hat die Strafkammer gefertigt, akribisch darauf die Sichtwinkel gegenüber gestellt, in all ihrer Unterschiedlichkeit. Vor Gericht klafften sie noch mehr auseinander, nach beinahe drei Jahren.

Der heute 23-Jährige Angeklagte hörte stumm zu, mit meist gesenktem Kopf. Dem, den er damals auf dem Bornhöveder Markt als ersten mit der Faust nieder gestreckt hatte, dem, der nachher wieder aufstehen konnte, sprach er leise eine Entschuldigung aus: "Es tut mir leid".

"Ich weiss, dass es ungeheuer schwer ist, nach so langer Zeit; da waren unheimlich viele Eindrücke, zeigte der Vorsitzende Richter Verständnis für die vielen unterschiedlichen Sichtwinkel der Zeugen.

Die Zeugen: "Ungelernter Zimmermann, zur Zeit arbeitslos", "Hausfrau und Mutter", "arbeitslos, ohne erlernten Beruf", alle zur Tatzeit zwischen 17, höchstens 20 Jahre alt.

- "Wir haben uns unterhalten, ich habe in irgendeine Richtung gezeigt, ob sich da jemand provoziert fühlte, weiss ich nicht", schilderte der erste Zeuge den Beginn der Eskalation damals unterm Maibaum.
- Der Verteidiger des Angeklagten stellte dem eine andere Zeugenaussage aus dem Polizeiprotokoll gegenüber: "Drei Männer sind auf den Angeklagten zugelaufen und wollten ihn verkloppen".
- Der Angeklagte selbst hatte von einem Faustschlag gesprochen, eine Zeugin hatte zwei gesehen. Der Vorsitzende Richter: "Kann es sein, dass der erste Schlag nicht getroffen hat?". Die Zeugin, fest: "Nein, das habe ich gesehen". Der Polizei hatte sie gesagt, der Täter sei "gleich" weg gelaufen; gestern korrigierte sie: Sie habe vermutet, dass das der Täter gewesen sei.
- "Weg gelaufen sind sie erst, als die Polizei kam", wollte ein anderer Zeuge dagegen erinnern, der von gleich "so fünf, sechs" Angreifern sprach.

War es Feindschaft zweier Lager, die in dieser Nacht in Bornhöved zum Ausbruch gekommen war?
- "Diese Streitereien gibt es permanent auf solchen Festen", war eine der Aussagen.
- "Wir hatten nie irgendwelchen Stress mit den Wankendorfern", wies ein Zeuge das zurück.
- Wenige Sätze zuvor hatte er die Szene unmittelbar vor den Faustschlägen so skizziert: "Da standen schon sechs, sieben Russen um ihn rum", dann leiser: "oder Deutsche, weiss ich nicht".

"Manchmal vermischen sich so Dinge", resümierte der Strafkammer-Vorsitzende.

III: "Es tut mir so leid" - Das Urteil

Vier Verhandlungstage hat die Jugendstrafkammer nach der Wahrheit gesucht, das war zwei Jahre und acht Monate nach dem unseligen Faustschlag. Der, so der Sachverständige, habe nicht zum Tod des Opfers geführt, auch nicht die Schläge und Tritte, die damals noch auf den schon am Boden Sterbenden eingeprasselt waren, von wem sie auch immer gestammt haben mögen. Todesursache sei ein geplatztes Blutgefäß im Kopf gewesen, eine Hirnblutung, hervorgerufen durch den Sturz des 21-Jährigen mit dem Hinterkopf auf ein Geländer und die Stufen einer Treppe: "Körperverletzung mit Todesfolge", wie schon in der Anklage formuliert. Das Urteil, als Jugendstrafe: 10 Monate Haft, ausgesetzt auf Bewährung. Noch einmal sagte der junge Mann auf dem Angeklagtenstuhl die Worte, die er schon mehrfach gesprochen hatte: "Es tut mir so leid". Die Eltern des Toten hörten sie stumm.

Peter J. Gollnik (März 2004)



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