Wandern durch die Geschichte

Dies ist die Schilderung einer (mehrteiligen) Wanderung: Von den Karpaten durch die Hohe Tatra, die Sudeten, bis ins Erzgebirge, den Böhmer Wald. Und es ist auch die Schilderung einer Begegnung mit der Geschichte.

Erzgebirge (Mitte) - (I) Vom Vietnam-Bazar zu den Pyramiden-Schnitzern

Das Göhrener Tor ist weit offen

Litvínov1), am Südhang des Erzgebirges, keine 30.000 Menschen. Im 14. Jahrhundert als Lutwinis Villa erwähnt, da soll es sogar schon eine Kirche gegeben haben. Leutensdorf nannten es später die Deutschen. Ein gebeuteltes Städtchen; mal hierhin verkauft, mal dorthin verpfändet; mal Meißener Eigentum, dann wieder an Böhmen zurück verscherbelt, vom gerade zwölf Jahre alt gewordenen tausendjährigen Deutschland als Teil der Sudeten2) einverleibt; nach der Vertreibung der Deutschen ab Mai 1945 zogen Neubürger aus der Slowakei, aus Mittelböhmen, viele Roma zu. Da war ein Teil des Stadtgebietes schon ruiniert - der Ortsteil Dolni Litvínov ist unter den Braunkohle-Baggern untergegangen, die Hermann-Göring-Werke3) haben außer dem Boden auch unzählige Sklaven-Arbeiter ausgepresst.

Das "S" ist nicht mehr ausgemalt - es stand einst für die Slowakei auf diesem aus CSSR-Zeiten stammenden Grenzstein. Foto: Peter Gollnik
Ein ausgemaltes "C", ein verblichenes "S":  Das "S" stand an diesem aus CSSR-Zeiten stammenden Grenzstein  für die Slowakei. Foto: Peter Gollnik

8 Uhr morgens am "KAVKA"-Busstopp vor dem Bahnhof. Gegenüber lungern verhärmte Gestalten, Männlein, Weiblein. Flaschen machen die Runde, Müllkübel werden durchwühlt - in Litvínov ist jeder vierte Einwohner ohne Arbeit, Bergbau, Keramik, Textil- und Spielzeugindustrie sind schon lange nur noch Geschichte.

8.10 Uhr, wie jeden Werktag, fährt der Kleinbus ins Gebirge vor. Karel Karfus heißt der Fahrer, 42 Minuten braucht er für die 25 Kilometer hinauf zum Kamm , 32 Kronen kostet die Fahrt, etwa 1.30 Euro. Ceský Jiretín4) heißt die Endstation, gut 700 Meter hoch, nicht viel mehr als 50 Bürger, ein kalter Wind fegt über die Bus-Wendeschleife, öder geht's kaum noch; Georgendorf nannten das die Deutschen, auf der anderen Seite liegt Deutschgeorgenthal.

Silber, Kupfer, Blei gab's hier mal reichlich, das war im 16. Jahrhundert. Jetzt setzt das Örtchen auf Touristen: Nach der Ost-West-Wende öffnete ein Grenzübergang, gelegentlich wandert tatsächlich ein Spaziergänger herüber - einige wenige Buden der Vietnamesen locken mit Billig-Zigaretten, ein Schlachter wirbt mit "Fleisch jeder Art", verschlossen das Restaurant, zusammengeklappt die Sonnenschirme im Biergarten.

"Drüben" hat der aufgestaute Rauschenbach Teile des Gemeindegebietes von Tschechisch-Jiretín unter Wasser gesetzt. Die alte Holzkirche von Fláje5) aus dem 14. Jahrhundert haben die Jiretíner wegen des von den sozialistischen Brüdern der damaligen deutschen Ost-Republik errichteten Stausees 1969 abgebaut und ins Dorf geholt - sie ist wieder zu besichtigen.

Rucksack auf, den Kopf gegen den Eiswind zwischen die Schultern gedrückt, die Windbluse bis oben hin zugezurrt; Schritt für Schritt bergauf, gen Westen erst, links und rechts einzelne Häuschen, ein Ski-Schlepplift; hinter der letzten Hütte eine abrupte Linkswendung, fort von der Rauschenbach-Talsperre, fortan plätschert rechts ein Bächlein entgegen, auf dem anderen Ufer ist schon Deutschland - im Winter könnte man glatt hinübergleiten, und selbst im November soll's Wanderer geben, die kurzerhand die Stiefel ausziehen, die Hosen aufkrempeln und auf die direkte Art über die Staatsgrenze abkürzen: "Krusnohorska lyzarska magistrala" haben die tschechischen Erzgebirgler die Piste genannt, die Erz-Magistrale der Loipen-Geher.

Bis auf 873 Meter geht's hinan, stetig, an die drei Stunden lang. Im nebeligen Dunst plötzlich ein "Pozor"-Schild, "Achtung!", und: "Hranice!", "Grenze". Seit Weihnachten 2007, seit Tschechiens Beitritt zum Schengen-Raum, ist der Grenzübertritt hier wieder unkontrolliert möglich, ganz legal; 62 Jahre lang war davor der Weg abgesperrt gewesen, der heute asphaltierte Münzelweg auf deutscher Seite war Patrouillenweg der DDR-Grenztruppen, es wurde auch scharf geschossen. Ein paar Schritte rechts eine Schutzhütte, zwei Bänke darin, ein Tisch, eine rostige Säge - möglich, dass einst hier ein Wachturm gestanden hat. Das Tor in der Grenze jedenfalls war schon damals vermodert, abgerissen - das "Göhrener Tor" hat man es genannt. Ausgesehen haben soll es wie ein offene Scheune, und es gehörte als Durchlass zum Zaun eines riesigen Wildgatters. Menschen passierten es problemlos - das im Gatter eingeschlossene Wild (1890, als das Tor entstand, angeblich 600 Stück allein an Rotwild) dagegen scheute vor der Tunnelwirkung des Durchlasses zurück: Es blieb im Gatter.

Das Gatter gibt es heute noch, ein wenig zurückgelegt auf tschechischem Gebiet, der Wanderweg führt streckenweise daran entlang. Und das Göhrener Tor, einstmals rege genutzte Wegverbindung zwischen Neuhausen (deutsch) und Kliny (Göhren, tschechisch), ist wieder weit offen, auch wenn das Bauwerk nicht mehr steht.


Informationstafel am Göhrener Tor. Foto: Peter Gollnik

Einen "wichtigen historischen Moment" hatten die Bürgermeister von Neuhausen und Kliny nach der Wieder-Öffnung des Übergangs ausgemacht, als sie sich am 5. Januar 2008 bei Glühwein am einstigen Tor trafen - die "Möglichkeit zum freien Übergang zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik" werde "die vielen Freundschaften der Bürger beider Nationen weiter fördern".

Auf dem Münzelweg wird's belebt: Aus dem Nebel tauchen zwei atemlose Menschen mit mannsgroßen Antennen über dem Rucksack auf - Amateurfunker seien sie, erfahre ich, aus Chemnitz. Und auf 800 Metern Höhe lasse sich eben gut funken. Man muss kein Wanderer sein, um sich auf Gebirgeshöhe ziehen zu lassen...

Am Weg ein einstiges FDGB-Ferienheim, eher für die politische Elite, so nahe am "unzuverlässigen" Bruder CSSR. Stück für Stück wird es gerade zum Hotel ausgebaut, das Restaurant ist angenehm, die Bratkartoffeln spitze, die Preise moderat - aber weit und breit kein Gast, am Samstagnachmittag. Eine gute Stunde darauf "Einlauf" nach Seiffen, pardon: nach "Kurort Seiffen"6). Der Ort platzt schier aus den Nähten: Keine 3000 Einwohner mehr, weniger als 800 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, aber 58.000 Übernachtungen im Jahr - der Tourismus ist die große Hoffnung. "Erzgebirgische Volkskunst" heißt die Attraktion des Straßendörfchens, auch "Brauchtum". In bald jedem Haus ein Schnitzer, in den Vorgärten riesige Weihnachtspyramiden, der Tourismusverein bietet stundenweise "Kreativ sein mit Holz", Führungen durch Spielzeugmuseum plus Reifendrehwerk und auch "Klöppeln für Jedermann" an. Im "Seiffener Hof" (mit angeschlossener "Pyramidenwerkstatt - Herstellung individueller Pyramiden mit Kerzen oder elektrisch") ergattere ich das letzte Einzelzimmer.

 

Peter J. Gollnik, November 2011

► (II) Nabucco und die Natzschung-Brücke