EU-Binnenmeer Ostsee

Auch früher, als der kalte Krieg noch eisig war, gab es schon so etwas wie Ostsee-Politik: Es war Mitte der 70er Jahre, als die DDR-Oberen westliche Tages-Touristen als Einnahmequelle entdeckten. Einmal DDR und über Nacht wieder zurück - das brachte Ost-Berlin dringend benötigte Devisen, machte tausenden von Bundesbürgern einen neugierigen Blick ins andere Deutschland möglich. Und den beteiligten Reedereien ließ es hübsche "Butterfahrt-Gewinne" in die Kassen strömen - der Neustädter Reeder Deilmann etwa startete auch mit solchen Fahrten seine "Kreuzfahrer"-Karriere. Eine dieser "Seereisen" machte ich für die Bremerhavener Nordsee-Zeitung, für Stader Tageblatt, Cuxhavener Nachrichten und andere mit.


So war das in den 70ern: DDR-Besuch mit Deilmann, Hadag und TT

Butterfahrt nach "drüben"


Ganz am Rande der "großen" Politik, ohne viel Aufhebens von sich zu machen, fast unbemerkt hat sich in diesem Sommer eine neue Variante des deutsch-deutschen Tourismus entwickelt: Fast 6000 Bundesbürger dürften es sein, die bis zum Ende der diesjährigen Sommersaison ohne große Formalitäten einen Tages- oder Wochenendbesuch in der DDR gemacht haben - auf dem Wasserweg, mit zollfreiem Einkauf an Bord, zum Teil sogar mit "echtem" Kreuzfahrt-Flair.

Als "Kreuzfahrten nach Rostock/Warnemünde mit zollfreiem Einkauf an Bord" propagieren mittlerweile drei Reedereien das offenbar lukrative Geschäft mit der Seefahrt ins andere Deutschland. Spötter sprachen bei der Eröffnung der ersten Fahrt von "Butterfahrten für Vertriebene". Womit zumindest beim Begriff "Butterfahrt" die Lästerer so uönrecht nicht haben sollten. Verkaufmanager Martensson von der TT-Line, mit bisher nur vier Fahrten vorerst noch zurückhaltend-abwartend, gibt offen zu: "Wir müssten eine Auslastung von fast 100 Prozent haben, um nur über den Fahrpreis kostendeckend fahren zu können." Und so läuft das Geschäft dann eben über den bordeigenen "Free-Shop" mit billigen Zigaretten und lockenden Schnapspreisen. Die TT-Linie war es denn auch, die sich am geschicktesten durch das engmaschige Netz der Zollvorschriften wand, das da die DDR für den Bundesbürger als "Zollinland" deklariert und sich mit nur dreieinhalbstündiger Seefahrt von Travemünde nach Warnemünde nicht zufrieden gibt: Man verfiel auf die Idee der Wochenendfahrt, legt Freitag abend in Travbemünde ab, ankert auf See vor Warnemünde, bietet für den Sonnabend zwei Land-Ausflugsprogramme an und erreicht - wiederum nach mehrstündiger Ankerzeit auf See - am Sonntagvormittag wieder Travemünde. Der Zoll kann dann nichts gegen die Stange Zigaretten oder den Liter Alkohol pro Person sagen: Man war "über acht Stünden auf See".

Den Passagieren scheint die Idee recht zu sein. Die Hadag-Seetouristik, der Neustädter Reeder Peter Deilmann und die TT-Linie konnten sich in dieser Saison über mangelnden Zuspruch kaum beklagen. Die anfänglich vielgelästerten "Heimwehtouristen" scheinen dabei übrigens in der Minderzahl zu sein. Die relativ große Anzahl von jungen Leuten, unbefangen und größtenteils ohne jede Verbindung verwandtschaftlicher oder anderer Natur, fällt geradezu ins Auge. "Wir wollen uns einmal an Ort und Stelle über die DDR informieren", meinte ein etwa 27jähriger Lehrer, der zusammen mit Kollgen das Wochenende "etwas nutzbringender als sonst" verbringen wollte. Ein älterer Alleinreisender hatte "aus Neugier auf die DDR" den Kurztrip über die Seegrenze zu den deutschen Nachbarn gebucht, und ein Ehepaar aus Kassel fuhr mit, "weil das hier doch ziemlich probelemlos geht". Nur wenig gentöztzt dagegen die offiziell nicht gestattete ("Das Visum berechtigt nur zur Teilnahme an dem touristischen Programm. Ein individueller Aufenthalt in Warnemünde oder Rostock ist nicht möglich") Möglichkeit zum Treffen mit DDR-Verwandten oder -Freunden. Im Prospekt heißt es dazu verschämt: "Es gibt sicher Momente und Gelegenheiten für ganz persönliche Erlebnisse."

Nun, ganz persönliche Erlebnisse gab es denn doch für einige "Kreuzfahrer": Während der DDR-Reiseleiter die riesigen Wohnneubauten am Rande von Rostock pries und gerade anhub zu: "Hier sehen Sie moderne Baumaschinen bei der Gestaltung von Parkplätzen", erninnerte sich ein ehemaliger Rostocker vor Frau und habwüchsigen Kindern: "Hier sind wir immer aus dem Bus gestiegen - und da, hinter der Ecke, das ist "unser Haus". Der Mann mitsamt Familie war aus Stuttgart angereist, "nur um mal zu sehen, wie es heute hier aussieht". Auf das Schiff zurückgekehrt, zeigte er sich dann doch enttäuscht. "Geleistet haben die ja was", erkannte der Rostocker aus Stuttgart an, aber: "Das ganze schöne alte Rostock lassen die vergammeln."

Erstaunlich sachlich die Reaktion der Rostocker Bevölkerung auf die "Invasion" der bundesdeutschen Touristen, die sich da zweieinhalb Stunden lang dursch die Kröpeliner Straße wälzte, in Cafés pausierte und durch das einzige Kaufhaus der Einkaufsstraße streifte. Gesprächen unter Deutschen standen offensichtlich Hemmungen auf beiden Seiten entgegen, Politik war passé, man vermied es, Vergleiche zu ziehen zwischen Ost und West. Statt dessen knappe Hinweise, wenn man nach dem Weg fragte, Weltoffenes in den Cafés: "Sie könnnen selbstverständlich auch in Westmark zahlen." Man zahlte, in Westmark, und sah Menschenschlangen im tristen "Intershop", wo DDR-Bürger für Westdevisen in Dollar ausgezeichnete Westwaren kaufen können.

"Geradezu exotisch", fasste ein Hannoveraner nach diesem Ausflug über die Grenze seine Eindrücke zusammen. "Irgendwie anders", mente eine Stenotypistin aus Bremen und fügte hinzu: "Die Leute sehen aber ganz zfrieden aus hier."

Noch einmal per Schiff in die DDR fahren wollte kaum einer. "Wir haben das jetzt gesehen hier, das nächste Mal machen wir etwas anderes", hieß es bei den Wochenendausflüglern fast einhellig. Und der Betriebskegelklub aus Hannover, der Oberbuchhalter an der Spitze, äußerte gar Enttäuschung, dass so wenig von "Nachtleben an Bord zu spüren" gewesen sei. Immerhin, die Bar hatte bis drei Uhr morgends gehöffnet, und auch der Kegelklub schien zu seinem Recht gekommen zu sein. "Eigentlich sind wir ja nur wegen der langen Seefahrt hier, da können wir so richtig unsere Kasse leer machen", sprach ein Gruppenmitglied den wahren Grund für den Trip nach Warnemünde aus. "Aber es war doch ganz nett, so etwas mal zu sehen", kam es dann zögernd hinterher. Und kaum jemand wunderte sich noch darüber, dass die Abfertigung und die Kontrollen durch die DDR-Beamten so schnell und so reibungslos vonstatten gegangen waren. "So richtige Schwierigekeiten hatten wir eigentlich auch noch nicht gehabt", zog TT-Linien-Managar Martensson die bisherige Bilanz der diesjährigen "Kreuzfahrten nach drüben".

PETER J. GOLLNIK, 1975 veröffentlicht in Nordsee-Zeitung, Stader Tageblatt, Cuxhavener Nachrichten und anderen.



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