Wandern durch die Geschichte

Dies ist die Schilderung einer (mehrteiligen) Wanderung: Von den Karpaten durch die Hohe Tatra, die Sudeten, bis ins Erzgebirge, den Böhmer Wald. Und es ist auch die Schilderung einer Begegnung mit der Geschichte.

Erzgebirge (Mitte) - (II) Nabucco, Opal und die Natzschung

Brückenschläge groß und klein

Sonntagvormittag im Erzgebirge, irgendwo nach Norden zweigt der neue Kammweg7) ab, 2011 eröffnet, gleich als "Qualitätsweg" eingestuft, und schon von Trekking-Anbietern katalogisiert - knapp 600 Euro die geführte Wanderung, acht Tage, Halbpension und Gepäcktransport inklusive. Der Katalog rechnet drei Stunden bis Olbernhau, länger dauert's auch über den (nicht so neuen) Sachsenweg nicht. Der steigt etwas südlicher an Spitz- und Hirschberg vorbei an, ist breit und bequem, zum sonntäglichen Glockengeläut weit unten im Tal kommen Kirchgänger mit Kind und Kegel entgegen.

Sanfter Abstieg nach eineinhalb Stunden, von Norden mündet der so sehr umworbene neue Kammweg (blaue Markierung) und führt - "Qualitätsweg" hin, "Qualitätsweg" her - auf der vielbefahrenen Autostrasse ohne Fußweg und ohne Seitenstreifen bis nach Olbernhau8) hinein. Da, wo der Wanderer sich wieder auf einen Fußweg retten kann, winkt wenigstens ein Gasthof: Frühschoppen-Zeit bei Familie Groschupf, ein Zimmer hätten sie wohl auch (35 Euro) - aber dazu ist's noch zu wenig fußlahm.

Olbernhau, bummelig 10.000 Einwohner, rechts und links des Flüssleins Flöha9) lang gezogene Straßenortschaft, auch "Sieben-Täler-Stadt" genannt - man muss nicht durch; ungefähr da, wo die Natzschung10) in die Flöha mündet, geht's über ein Brücklein, dann ist man links im Ortsteil Grünthal - und der brummt förmlich von Historie: Als "europaweit von einmaliger Bedeutung" stufen die Olbernhauer ihre Saigerhütte11) ein, ein musealer Komplex des Hüttenwesens der Buntmetallurgie. Öfen, Herde, ein Pochwerk, Hüttenladen, Arbeiterwohnhaus, Spinnstube - das nur im Vorübergehen zu registrieren hieße, das Leben der Hüttenarbeiter von vor hundert Jahren gering zu schätzen.

Wer fußlahm ist, kann kein Olbernhauer sein. Die haben nämlich den Staffellauf über den kompletten Erzgebirgskamm erfunden, die "Erzgebirgstraverse", "ein feiner kleiner Landschaftslauf, an dem auch die ganze Familie Spaß haben kann". Sagen sie jedenfalls selber. Der nächste startet am 16. Juni 2012, 180 Kilometer über die drei Tausendergipfel Auersberg, Fichtelberg, Keilberg, 3800 Meter hoch und runter! Beim ersten Mal (2007) haben zwei Staffeln die Strecke in knapp 18 Stunden geschafft, inzwischen nehmen bis zu zehn Teams teil - und sind in etwas mehr als 13 Stunden am Ziel.

Fußlahm gilt sowieso nicht. Durch's Tor der Saigerhütte geht's auf ein Brücklein - drüben ist Tschechien. Und wieder ein Vietnamesen-Markt mit Billigzigaretten auch ohne Steuerbanderole. Das groß plakatierte Versprechen eines stündlich zum Restaurant ins zwei Kilometer weiter gelegene Brandau (Brandov) fahrenden Busses ist nicht mehr als ein Versprechen - hier fährt nichts, auch kein Bus, jedenfalls nicht im November.

"Nabucco" soll einmal hier anlanden, die Pipeline, die Mitteleuropa über Ungarn, Österreich mit Gas aus dem kaspischen Raum versorgen soll. "Opal" ist schon da, auch eine Gasleitung, aber in anderer Richtung, ein Abzweig der Ostsee-Pipeline von Lubmin durch Brandenburg und Sachsen, angeblich das größte jemals in Europa verlegte Röhrennetz. Im November 2010 war das letzte 1,40 Meter durchmessende Rohr im Grenzgraben zwischen Olbernhau und Brandov platziert worden - Tschechiens Gasnetz ist seitdem mit der russisch-deutschen Ostsee-Röhre verbunden, Energie ohne Grenzen, eine Milliarde Euro waren dafür verbaut worden, 2500 Menschen waren damit beschäftigt gewesen - inzwischen stehen für Wartung und Betrieb der Pipeline keine zwanzig Menschen mehr auf den Lohnlisten.

Linkerhand am Weg nach Brandov12) die silbern glänzenden nagelneuen Metall-Röhren der Übernahme- und Verdichterstation, rechterhand ein ältlicher Wächter mit Hund im warmen Auto, vorn zu beiden Seiten die ersten Häuser von Brandov. Einst gab der Kohlebergbau Arbeit, 1920 zählte man 2572 Einwohner, fast alle Deutsche. Nach ihrer Vertreibung im Jahre 1946 brachen Handel und Handwerk zusammen - am 1. Januar 2011 hatte Brandov noch ganze 239 Bewohner.

Privater Brückenschlag von Deutschland nach Tschechien: Ein Steg über den Grenzbach Natzschung. Foto: Peter Gollnik
Privater Brückenschlag: Die "Ottilienbrücke" an der Lochmühle. Laut Inschrift erbaut am "02. April 2010, Bauleiter: Uwe". Und Mocky, Ricko, Andreas, Wolfgang, Jost werden auch erwähnt. Hinten links ist der Grenzstein zu sehen; die Bank hinten rechts müsste demnach noch auf sächsischem Gebiet stehen... Foto: Peter Gollnik

Gleich neben der Kirche, in der Klásterní Jizba, der "klösterlichen Stube" finde ich Unterkunft, Essen, am nächsten Tag ein opulentes Frühstück.

Richtung Kalek geht's am nächsten Tag, gemächlich, ohne Anstrengung, fast immer bei knapp 600 Metern Höhe, kilometerlang am Grenzbach Natzschung entlang. Auf der anderen Seite ist Sachsen, Deutschland; früher war's die DDR, und die Straße "drüben" war nicht für jeden da. Kilometerlang gibt's immer noch keinen Überweg, auch wenn auf meiner Wanderkarte an der Gabrielen-Grube eine komfortable Straßenbrücke eingezeichnet ist - Wunsch oder Fiktion? Macht nichts: An der Lochmühle auf der deutschen Seite, dort wo sich auch wieder der "Komfort"-Kammweg nähert, dort haben Bauernkinder ein solides Brücklein über die Grenze hinweg gebaut - unmittelbar am tschechischen Grenzstein eine bequeme Bank unter Bäumen, von dort ein sauberer Steg hinüber nach Sachsen. Und an der sächsischen Straße eine Bushaltestelle... Der Bus hält wenig später genau vor dem Dorfgasthof von Rübenau13).

 

Peter J. Gollnik, November 2011

► (III) Zwei Städte bauen eine Mitte