Wandern durch die Geschichte

Dies ist die Schilderung einer (mehrteiligen) Wanderung: Von den Karpaten durch die Hohe Tatra, die Sudeten, bis ins Erzgebirge, den Böhmer Wald. Und es ist auch die Schilderung einer Begegnung mit der Geschichte.

Bergstadt Platten, Gasthof "Blauer Stern". Foto: Peter Gollnik
Horní Blatná, Bergstadt Platten - vorne rechts der Blaue Stern, Modrá Hvezda.. Gleich gegenüber (rechts vom Foto-Standpunkt) steht die alte Kirche. Ein kleines Stück die Strasse hinunter liegt links der Friedhof. Foto: Peter Gollnik

Erzgebirge (Mitte) - (IV) Bergstadt Platten und die Grenzbahn

Zwei Staaten, eine Identität

Bärenstein. Am Rathaus ein Busstopp, gegenüber der Fußpfad hinunter zum Bach und hinüber nach Weipert ins Tschechische. Man könnte auch immer am Bach und an der Grenze entlang nach Oberwiesenthal wandern, das wären auch nicht mehr als drei Stunden. Gefahren werden ist's bequemer.

Die Meilen-Säule am Neuen Haus, dem Grenzübergang zwischen Fichtelberg und Klinovec. Foto: Peter Gollnik
Nach Carlsbad, Schwarzenberg - und "0 Meilen" bis zur Grenze: Historischer Meilenstein am Neuen Haus, dem gleichfalls historischen Grenz-Gebäude zwischen Fichtelberg und Klinovec. Foto: Peter Gollnik

Zumal es bis zum Übergang zwischen Fichtelberg22) und Klinovec23) schon ein Höhenanstieg auf mehr als 1000 Meter ist, zum Fichtelberg hinauf gar auf 1214 (und hinter dem Komma eine "6" - wer hat das gemessen?), und Mitte November das historische Bähnchen zum Berg gerade Betriebspause hat. Und, und, und überhaupt schmerzen die Füsse doch ein wenig arg. Also der Bus. Bis zum Neuen Haus fährt er, an der Sommerrodelbahn vorbei, da oben brennt die Sonne! Eine breite Pass-Strasse, rechts der Fichtelberg, links der tschechische Klinovec, mit 1243 Metern noch ein bisschen höher (und hinter dem Komma hat er sogar eine "7", warum die Sachsen bloß die lächerlichen zehn Zentimeter nicht einfach dazuschütten?) Die Grenzstation verwaist, dahinter geht's hinunter nach Bozi Dar24): Gasthof an Gasthof, Ente, Eisbein, Knödeln, Pilsener Bier, Budweiser, ganz viele deutsche Rentner. Die Touristen-Info ist geschlossen, vor Jahren hatte ich sie in Aktion erlebt - oder eher in Nicht-Aktion: Inkompetenz mit der Gießkanne verteilt, geschlossen macht sie den Ort jetzt allemal sympathischer.

Grabstein Grund, auf dem Friedhof von Horni Blatna. Foto: Peter Gollnik
Grab Nummer 31: Platten war ihre Heimat, und auf dem Friedhof ist das Andenken an sie auch im tschechischen Staat erhalten geblieben - Anna Grund, geborene Link, "unsere unvergessliche Gattin und Mutter" liegt hier, gestorben am 20. Mai 1924 "im 41. Lebensjahre". Foto: Peter Gollnik

Bequem geht's bergab. In Karlsbad25) mißt man gerade noch ein bisschen mehr als 400 Meter über dem Meeresspiegel. Das einst mondäne Bad ist heute größtenteils von Russen aufgekauft, ein wenig teuer, ein wenig mehr heruntergekommen, in jedem Falle maßlos überschätzt. Das gerade erst vor wenigen Jahren mit viel EU-Geld "beispielhaft" errichtete Bahnhofsgebäude gammelt bereits wieder dem Verfall entgegen, die Restauration hat schon mal dicht gemacht. Oben ersetzt Frau Schaffnerin hinter dem Schalterglas Freundlichkeit durch Lautstärke, schnauzt den ratlosen Touristen tschechisch an, Bahnfahrkarten gebe es hier nicht (sondern ein Stockwerk tiefer), dann kommt wenigstens der Zug, bloß weg! Horní Blatná26), 900 Meter hoch am Gebirgskamm, ist das Ziel, die Bergstadt Platten, 39 Kilometer für 56 Kronen, ein wenig mehr als zwei Euro. Die Zugfahrt unbedingt bei Tageslicht machen, nördlich von Nejdek wird die Strecke so atemberaubend schön, dass auch Nicht-Bahnfans der Mund staunend offen bleibt. Tunnel und Haarnadelkurven wechseln einander bei N. Hamry ab, ein Meisterwerk der alten Bahntrassen-Erbauer. 1899 war der Schienenstrang zwischen Karlsbad/Karlovy Vary und Johanngeorgenstadt eröffnet worden.

Mehr als 110 Jahre später machen sich Bürgerinitiativen in Tschechien und in Deutschland Schulter an Schulter stark für Erhalt und Modernisierung der historischen Strecke: "Schienen statt Schwerlast-Strassen" ist ihr Motto, und so ziemlich regelmäßig treffen sie sich in Horní Blatná im Gasthof Modrá Hvezda, dem Blauen Stern. Da gibt's Zimmer, Kartoffelpuffer mit Waldpilzen (oder auch Schweinsbraten mit Knödeln, oder Szegediner Gulasch, oder...).

Friedhof Platten, Grab von Walter und Josef Wendler. Foto: Peter Gollnik











1958 geboren, 1967 hier beerdigt: Walter Wendler. Josef Wendler, 1957 geboren, wurde 1999 hier beerdigt. "Nicht weit von Deiner Eltern Haus schloss ein Unglück Dir die Augen zu..." steht auf dem Stein.
Foto: Peter Gollnik
Friedhof Platten, Grabstein Franz Hahn, Volksschul-Lehrer. Foto: Peter Gollnik











Generationen müssen ihn erlebt haben: Franz Hahn, gestorben 1916, in den Wirren des 1. Weltkriegs. Die Nachkommen bescheinigten ihm, "ein pflichttreuer deutscher Volksschullehrer" gewesen zu sein. Foto: Gollnik

Von Platten aus wurde einst Johanngeorgenstadt gegründet; das war im 17. Jahrhundert, als die Plattener Protestanten vertrieben wurden und über den Gebirgskamm nach Sachsen geflohen waren. Beinahe 300 Jahre später wurden wieder Plattener vertrieben, ihre Häuser niedergerissen, die Steine in die Slowakei verfrachtet. Die Lücken in den Häuserreihen sind heute noch zu sehen; wer hier gelebt hat, kann man an den Grabtafeln auf dem Friedhof ablesen: Größtenteils sind es deutsche Inschriften. Wenigstens die Erinnerung hat man nicht angetastet. Im Blauen Stern ist sie präsent - an den Wänden erinnern alte Fotos an die Vergangenheit - egal, ob tschechisch, deutsch: sie war böhmisch, erzgebirgisch. Als die Grenze 45 Jahre lang dicht verschlossen war, auch zum sozialistischen "Bruder", war das wie ein Riss durch eine einzige Identität, die Spaltung hat sehr weh getan.

Frühmorgens hängen Eiszapfen an der Dachrinne vor dem Fenster. Zwei Stunden sind's bis zum Übergang von Potucky nach Johanngeorgenstadt, es geht nach Norden, den Kamm leicht hinunter. Mit dem Zug kostet's 16 Kronen, 70 Cent. Mehrmals am Tag rauscht auch ein "Schnellzug" durch, von Karlsbad nach Johanngeorgenstadt und weiter nach Zwickau. Da steigt dann schon mal in Potucky die Bundespolizei zu und fragt nach unversteuerten Zigaretten und dem Ausweis...

Die Zigaretten haben auch Potucky27), das einstige Breitenbach, zum "Ausflugs"-Ort gemacht - die Mitte des Örtchens ist ein einziger Bazar, eine asiatische Geschäftsstadt mit mehr Vietnamesen als Erzgebirglern. Dafür musste Historisches weichen - die "Dreckschänke" etwa an der alten Poststraße von Johanngeorgenstadt nach Karlsbad, von Anton Günther 1904 mit einem zum Volkstum gewordenen Lied "gewürdigt", verfällt mittlerweile, sämtliche Bemühungen um ihren Erhalt sind bisher im Sande verlaufen.

Der Vietnamesen-Bazar von Potucky. Foto: Peter Gollnik
Orientalisch wirkt es, asiatisch sind die Händler, auf tschechischem Boden haben sie sich niedergelassen - und aus Deutschland reisen die Käufer an: Im früheren Breitenbach, heute Potucky, wird Kaufkraft abgeschöpft - auf Kosten des Ortsbildes. Foto: Peter Gollnik

Johanngeorgenstadt28): Bis zum Bahnhof ist es ein erkleckliches Stückchen. Auf deutscher Seite nur noch ein einziger einsamer Teppichhändler-Stand auf dem Trottoir. Im Bahnhof ein Imbiss, ratloses Schulterzucken auf die Frage nach Übernachtungsstellen: "Fragen Sie doch mal rechts die Straße hinauf im Blumenladen, die vermieten gelegentlich". Tun sie wohl, da hat sich aber schon eine größere Gruppe angesagt. Alsdann, die Beine geschwungen, es geht aufwärts. Und zwar schon wieder auf 800 Meter, erst an riesigen Abraumhalden vorüber in die Neustadt, dann über Abraumhalden in die Altstadt.

Hinweistafel in Johanngeorgenstadt auf den Kammweg. Foto: Peter Gollnik
Und da ist er wieder, der "Qualitätsweg" Erzgebirge-Vogtland. Johanngeorgenstadt steht mit auf seiner Linienführung. Foto: Peter Gollnik

Der gesamte Ort ist in DDR-Zeiten rücksichtslos dem Uran-Abbau geopfert worden, auf den Halden strahlt es noch heute... Irgendwo oben, nach gefühlten vielen Kilometern ohne Gasthof, ohne Pension, dann ein Lichtblick, pardon - ein "Schanzenblick". So heißt das gastliche Haus von Yvonne Oswald, Zimmer 3 ist noch frei, das Kartoffelpuffer-Gericht (satt und schmackhaft) macht 7,20 Euro.

Ach ja, eine Schanze habe ich von Zimmer 3 aus nirgendwo erkennen können. Könnte aber auch an dem vernebelten Ausblick gelegen haben...

 

Peter J. Gollnik, November 2011